„Lukas und ich hatten viele Dinge gemein, von denen mir als erstes unsere geschmackliche Abneigung gegen rohe Tomaten einfällt und zweitens eine große Angst vor Spritzen. Was die Spritzen betrifft, hat mich Lukas allerdings sogar noch um Einiges übertroffen. Sein Angst vor Spritzen brachte auch immer eine unfreiwillige Komik mit sich, denn es war schon ein besonderer Anblick, wenn der Bär von einem Mann seine Finger in die Ohren steckte und sich laut singend von einer Gesprächsrunde entfernte, nur um das garstige Wort nicht mehr zu hören. Da es mir beim Thema Spritzen allerdings sehr ähnlich erging und immer noch ergeht, konnte ich seine Leiden diesbezüglich immer gut nachempfinden und ziemlich sicher sein, dass in unseren gemeinsamen Gesprächen gewisse Themen mit Sicherheit nicht besprochen würden. Arzt zu werden, war wohl für Lukas genauso wie für mich eine nicht mögliche Karriereoption. Wir beide wären wohl in unseren weißen Kittel vor den Patienten davon gelaufen, wenn wir ihnen eine Spritze hätten geben müssen.
Jenseits unserer gemeinsamen Abneigung gegen rohe Tomaten und Spritzen verband uns allerdings auch schon recht früh eine gemeinsame Vorliebe: Lukas war der erste Gleichaltrige, mit dem ich über den Lektüregenuß der SZ sprechen konnte. Ich habe mir früher immer was auf meinen SZ-Konsum eingebildet und ich glaube Lukas war damals nicht minder stolz auf den seinigen, so wie man das halt eben ist, wenn man sich als Jugendlicher mit den ernsten Themen der Erwachsenen beschäftigt und die große Welt der Politik für sich erkundet. Mit Lukas habe ich häufig über die SZ gesprochen, doch trotz dieser gemeinsamen Vorliebe, verließ ich diese Gespräche – besonders erinnere ich mich an einen Sonntagvormittag am Sperlingschen Küchentisch – stets mit einem gewissen Gefühl der Irritation. Eine Irritation, deren Grund ich mir jetzt erst im Nachhinein wirklich erklären kann und deren Erklärung, der eigentliche Sinn dieses Texts darstellt.
Ich habe schon erwähnt, dass Lukas und ich beide schon recht früh mit dem Zeitungslesen angefangen haben. Vielleicht haben auch schon andere Teenager zeitgleich die SZ ebenfalls gelesen, allerdings ist der empirische Wahrheitsgehalt der Vergangenheit diesbezüglich für die Erklärung meiner Irritation letztlich unerheblich, da das subjektive Gefühl, dass der Lukas und ich da was recht früh geteilt haben von der Wahrheit gänzlich unbelastet verbleibt.
Mein eigenes SZlesen gründete sich auf meiner damals erwachten Vorliebe für Fußball, denn dieser Vorliebe konnte ich im Sportteil der Zeitung nachgehen. Warum der Lukas jedoch mit dem Zeitungslesen angefangen hat, das weiß ich leider nicht, ich denke aber, dass bei ihm andere Motive als bei mir vorlagen, denn den Fußball hat er erst später für sich so wirklich entdeckt.
Lukas und ich lasen beide so ziemlich alle Teile der Zeitung. Soweit es mir bekannt ist, hat der Lukas seine Zeitungslektüre eigentlich immer mit dem Politikteil begonnen, etwas später glaube ich dann mit dem Sportteil …
Der Lukas hat es genossen, wenn er einen Tag lang die SZ wirklich mal durchlesen konnte. Trotzdem gab es da eben diesen einen entscheidenden Unterschied in seinem Lektüreverhalten im Vergleich zu meinen lauen Tagen am Meer. Und dieser Unterschied hat mich wirklich irritiert und irritiert mich bis heute noch. SZlesen war für mich immer auch Genuss. Denn eine SZ, die bietet einem doch ein Bild der Welt, das wohl in einzelne Bereiche gegliedert ist und gleichzeitig eine Weltsicht, der man zumeist unvoreingenommen zustimmen kann. Wobei gerade das „unvoreingenommen“ doch eigentlich nicht wirklich stimmt, denn schon mit dem bloßen Kauf einer Süddeutschen spricht man sich doch schon für eine bestimmte Sicht auf die Welt aus …
Um jetzt zum Sinn dieses Aufsatzes zu kommen,… muss ich jetzt auf meine Irritation bezüglich des Lukasschen SZ-Leseverhaltens zu sprechen kommen. Ich glaube nämlich, dass der Lukas einen Fehler gemacht hat, wenn er die Zeitung gelesen hat. Er hat die SZ nämlich nicht als das begriffen, was sie ist und was ich im oberen Teil versucht habe darzustellen, nämlich amüsante Zerstreuung bei gleichzeitiger Bestätigung der eigenen Weltsicht. Der Lukas hat einen Fehler gemacht und die Zeitung als Handlungsvorlage begriffen, als den Bericht tatsächlicher Tatsachen und das wirklich Irritierende war für mich daran, dass er das dort Geschriebene nicht nur als Tatsachen begriff, sondern auch noch als solche, die durch Handlungen aktiv in ihrem Lauf verändert werden können.
Wir saßen gemeinsam am Essenstisch seiner Eltern und sprachen über die Nachrichten und das darin vorkommende Leid, welches weiß ich nicht mehr, und da fragt mich Lukas: „Alex, was soll man da jetzt machen?“ Ich weiß, dass mich diese Frage nachhaltig bis jetzt irritiert hat: He Lukas, was haben diese dort berichteten Tatsachen denn mit mir zu tun? Warum muss ausgerechnet ich da jetzt handeln bzw. Stellung beziehen? Was soll eine solche Frage? Haben wir nicht gerade zuvor über den Genuss der Lektüre der SZ gesprochen? Mein Ozean von Zeit vertrocknet zur einer Pfütze mit lauter toten Fischen und meine unberührten Landschaften sind auf einmal mit leidenden Menschen bevölkert, die dort an zuvor unberührten Pfaden vegetieren, frieren, hungern und leiden.
Ich glaube, dass dieser Lukassche „Fehler“ in der Rezeption der SZ, zutiefst zeigt, wie Lukas die Welt gesehen hat. Ein offensichtlich fehlerhafter Zustand, den es zu beheben gilt. Und letztlich ist es seine positive „Naivität“ gewesen zu glauben, dass dies auch tatsächlich möglich ist. Das eigentlich Schlimme daran ist, dass er mit seiner Sicht der Dinge und seiner positiven „Naivität“ vollkommen recht hat und die Irritation, die der Lukas mit seinem SZ-Lektürestil in mir erweckte, dem Erwachen aus einem süßen Traum gleicht, aus dem herausgerissen, ich das Heulen des Elends dieser Welt gewahr werde, bei dem ich nun am liebsten mit beiden Fingern in den Ohren laut singend weglaufen möchte. Was der Lukas mir da immer voraus hatte, war, dass er dieses Verhalten nur gegenüber Spritzen gezeigt hat und nicht gegenüber dem Elend dieser Welt.
Diese Stiftung ist meiner Meinung nach der Versuch, diese Weltsicht weiter zu tragen und weiter leben zu lassen. Ich wünsche ihr von ganzem Herzen Erfolg auf dieser Mission.”
Alex (A. Bodansky)